TYPE-ONE
discipline and progress in typography
Die Gestalten Verlag, Berlin 2004

 

Gespräch Weingart, Müller+Hess

Zu keiner Zeit wurden so viele neue Schriften entwickelt wie in den letzten zwei Jahrzehnten. Wie gehen Designer mit einem solchem Überfluss um? Wir haben drei Schweizer Designer, die sich einen Namen als Typografen gemacht haben – jedoch nicht, indem sie Schriften entworfen haben, sondern indem sie sie einfach benutzt haben – gefragt. Wolfgang Weingart ist nicht nur dafür bekannt, dass er Schriften so weit auflöst, bis diese an ihre Grenze der Lesbarkeit gelangt sind, sondern er ist auch ein Verfechter der Grundlagen der Typographie. In gewisser Weise kann man ihn als jemanden betrachten, der, nur durch die Anpassung oder die Verformung eines Buchstabens, den Weg geebnet hat für die Generation, die das „Basteln mit Buchstaben“ noch einen Schritt weiter gegangen ist: indem sie die Schriften aus unterschiedlichen Ressourcen neu zusammengestellt hat. Beat Müller und Wendelin Hess arbeiten zusammen als Müller+Hess und verbinden eine gründliche Basler Typografie-Ausbildung mit einem experimentierfreudigen Umgang mit Schriften. Sie entwerfen auch nicht ihre eigenen Fonts, sondern passen sie an, wenn sie meinen, dass es notwendig ist. Und die drei haben noch eine Übereinkunft: Sie verwenden eine sehr beschränkte Zahl von Schriften.

Wolfgang Weingart: Mir reichen ein paar wenige Schriften. Und viele dieser so genannten neuen Schriften sind eigentlich gar nicht neu. Man kennt deren große Erfinder nicht mehr. Wenn man beispielsweise ein Max-Bill-Alphabet aus den 1930er Jahren anschaut, so könnte das durchaus von heute sein.

Wendelin Hess: Möglicherweise kennt man deren Quellen nicht mehr, aber diese alten, experimentellen Schriften werden heute digitalisiert und so wieder sichtbar und einsetzbar gemacht. Und dann gibt es noch anonyme Schriften aus alten Plakaten und Werbungen, die jetzt als Grundlage für neue Fonts benutzt werden. Ein Beispiel: die Brauer- Schrift (Elektrosmog, 1999) basiert auf einer alten Corporate Identity einer Zürcher Bierbrauerei und ist als Font attraktiv. Ich könnte mir vorstellen, auf dieser Basis schöne Anwendungen zu gestalten. Was ich aber wichtiger finde als diese „alt“ oder „neu“-Frage, ist, wie diese Schriften angewendet werden: Die ganze Schriftgeschichte kann man klassifizieren in Schriften, welche die Anwendung dominieren, und Schriften, welche sich einer Anwendung unterordnen.

Max Bruinsma: Könntest du die Brauer benutzen, ohne einen Hinweis auf die kulturelle Herkunft dieser Schrift? Sie hat doch eine Atmosphäre, die zwar nicht unbedingt auf diese Brauerei zurückführen muss, aber trotzdem erkennbar eine bestimmte Zeit-Periode und auch eine bestimmte Herkunft aufzeigt.

Wendelin Hess: Diese Schrift kann in ihrer zurückhaltenden Einfachheit auch heute verwendet werden, losgelöst vom ursprünglichen Kontext. Sie scheint zeitloser als andere Schriften zu sein. Wenn man eine andere, in ihrer Form aufdringliche Schrift verwendet, dann dominiert diese jede Anwendung, die man damit realisiert. Das heißt, unter diesem Schriftentscheid entsteht nichts mehr. Mit Moonbase Alpha, um ein weit verbreitetes, krudes Beispiel zu nennen, sieht alles gleich aus. Aber wenn ich eine reduzierte Schrift nehme, ob Helvetica oder diese Brauereischrift, dann zwingt mich dieser Entscheid dazu, eine Struktur zu erfinden, die zur tragenden Qualität wird, weil die Schrift selbst in den Hintergrund tritt. Schaue dir zum Beispiel unseren Katalog für die Art Basel an: Dort kann man die Schriften auswechseln und das Buch würde um kein bisschen schlechter...

Max Bruinsma: Das Ganze in Univers, das wäre doch ein völlig anderes Buch!

Beat Müller: Das gäbe sicher einen leicht anderen Eindruck. Aber es geht hier um eine prägnante Konzeption, und nicht darum, ob es in Franklin Gothic oder einer ähnlichen Grotesk gesetzt ist.

Max Bruinsma: Es gibt also Schriften, die ihr eigenes Gestaltungsprogramm in sich tragen. Das eingebaute Programm wird alles andere überlagern...

Wolfgang Weingart: Genau! Das Hauptproblem für mich bei vielen dieser neuen Schriften ist, dass es eben persönliche Aussagen sind. Die sind von Gestaltern gemacht, für ihre eigene Arbeiten.

Wendelin Hess: Und die gestalterische Leistung, wenn man diese Schriften benutzt, liegt dann eher beim Schriftentwerfer als beim Gestalter. Für uns war es immer interessanter, in bestehende Schriften einzugegreifen, als Fonts von Grund auf neu zu entwerfen. Uns ging es mehr darum, Schriften nach unseren Bedürfnissen anzupassen und im Rahmen eines spezifischen Kontexts zu optimieren.

Wolfgang Weingart: Es gibt lustige Schriften, aber meine Probleme liegen völlig anders. Ich möchte mich typografisch mit einem geringen Aufwand äußern und damit eine maximale Qualität erreichen. Da kann ich auch mit einer hundertjährigen Schreibmaschinenschrift sehr gute Typografie machen. Ich brauche keinen Ersatz dafür. Man muss die Grundlagen kennen — ich bin da ein Klassiker, ich glaube daran; wenn ihr als Gestalter die Grundlagen nicht durchexerziert hättet, wäret ihr nicht das, was ihr jetzt seid.

Max Bruinsma: Du sagst im Wesentlichen, dass man gute Fachleute ausbilden sollte, die über das Morgen hinaus mitreden können. Man kann aber, ob man das gut oder schlecht findet, ziemlich neutral feststellen, dass unsere ganze Kultur auf das „Heute“ fokussiert ist. Gestalterische Aussagen sind Aussagen fürs „Jetzt“, darüber, wie die Welt „heute“ aussieht, und nicht über das Fach, nicht über die Kontinuität.

Wolfgang Weingart: Wir müssen aber weiterdenken. Zurückdenken und weiterdenken. Das Durchstreichen, zum Beispiel, ist nicht meine Erfindung, ich habe es wieder regeneriert. Zu eurer Zeit in Basel war ja alles verboten. Ihr ward auf der Schule die enfants terr ribles, zu Recht, so wie ich es war, als ich 1964 von der Schule gehen musste, weil ich Vorträge organisiert habe gegen diese steife Interpretation von Typografie und Grafik. Ihr seid ja aufgewachsen wie im Kloster, nicht wahr? Und habt dann rebelliert, und das finde ich toll!

Beat Müller: Es ist interessant zu sehen, wie stark diese Einschränkung auch eine Gegenhaltung provozierte. Ein gutes Beispiel außerhalb der Typografie war unser Versuch gegen die strenge Farbenlehre der Schule. Für die Plakate der 30. Art Basel verwendeten wir Papiere mit 30 verschiedenen vorbedruckten Farben. Die Farbkomposition auf der Straße machten nicht wir, sondern der Plakatkleber nach seinem Gutdünken. Das hat interessante Kombinationen ergeben, die wir selbst nicht hätten komponieren können. Dem schulischen, mühseligen Annähern und Abstimmen von Farben ins Gesicht zu schlagen, das war...

Wolfgang Weingart: Bei diese Art-Basel-Plakaten scheint trotzdem noch immer die Basler Philosophie durch, ein hofmannartiger Minimalismus der Farbe. Die meisten aus der Hofmannschule haben einfach weitergemacht wie er und nur wenige haben es umgestaltet in eine neue Symbolik. Ich sehe diesen Minimalismus von Hofmann in euren Plakaten, das ist irgendwie eine unterbewusste Weiterverarbeitung dessen, was ihr damals grundsätzlich gelernt habt.

Beat Müller: Es ist auch ein Versuch, wegzukommen von diesen tradierten entwerferischen Abläufen. Wir wollen ein Prinzip erkennen oder erfinden, das sich selbst weiterentwickelt. Damit wir nicht stundenlang herumschieben müssen — hier die Schrift einen Punkt größer oder kleiner, da alles ein wenig nach links oder rechts. Wenn unsere Parameter gefunden sind, gut gestaltet sind, dann können wir diese dem kombinatorischen Zufall überlassen, und es funktioniert in der Regel...

Wendelin Hess: Ein Instrumentarium generiert immer Zufälligkeit und Fehler, die man benutzen kann. Das ist, wie unsere Arbeit oft funktioniert. Man dreht an Knöpfen und es entstehen hunderte Seiten grauenhaftes Material, aber irgendwo gibt es einen Schlüssel. Zufälligkeiten und „Fehler“ waren unter anderem auch Ausgangslage für die Druckerzeugnisse des Kaskadenkondensators.

Max Bruinsma: Ich finde das eine typische Haltung der Computergeneration. Du hast hier ein Instrument, das diese Art von Konsequenz durchführen kann. Bei dieser Generation erkennt man auch, dass die Form der Schrift ein Teil der ganzen Message geworden ist.

Wendelin Hess: Diese Technologie hat ja auch ermöglicht, dass man in Fonts bildliche Elemente einbauen kann. Bei Mecano (Ludovic Balland, 2003) zum Beispiel hat jeder Buchstabe seine eigene Dekoration und daraus entsteht ihr Ausdruck, der in ihrer Formensprache aber anders funktioniert als das darunter liegende Alphabet. Das war bei unserem Bildalphabet fürs „Eye Magazine“ (Eye #32, 1999) ähnlich. Damals haben wir jeden Buchstaben durch eine Bildserie ersetzt – durch Autos, nackte Frauen, Päpste usw. – daraus ergab sich ein Text, der sich nur über die Zugehörigkeit zu einer Bildfamilie lesen ließ. Das hat vielleicht kaum mehr mit Typographie zu tun und ist faktisch unlesbar, ist aber ein interessanter Ausgangspunkt für neue konkretere Anwendungen.

Max Bruinsma: Es hat schon direkt mit Typografie zu tun. Wenn nur deswegen, dass hier Bilder zu Zeichen werden. Was ich interessant finde, ist das Zusammenblenden von Bild und Text, von Bildern und Buchstaben. Bilder werden über ihre ikonenhafte Kondensierung zu Buchstaben oder Worten und Buchstaben oder Worte werden über ihre formale Ausprägung zu Bildern. Bei euch sieht man das eher selten; ihr benutzt meistens Schriften, die relativ neutral sind, um damit eure Aussage zu machen, als Schriften, die an und für sich schon eine Aussage, ein Bild sind...

Wendelin Hess: Unsere Reduktion hat auch damit zu tun, dass wir in Bereichen mit der Priorität einer optimalen Lesbarkeit arbeiten. Du sagst, Wolfgang, „wir haben genug Schriften, hört auf damit“. Ich bin aber sehr zufrieden mit der Lexicon, einer relativ neuen Schrift von Bram de Does und Peter Mathias Noordzij (The Enschedé Font Foundry, 1994), mit Eigenschaften, die wir bei keiner anderen Schrift in dieser Kombination gefunden haben.

Beat Müller: Es gibt viele sehr gute Leseschriften, aber man spürt den Schriften in der Regel doch noch die Zeit an. Deswegen finde ich es interessant, dass es nicht nur „zeitgeistige“, sondern auch wirklich neue, lesbare Schriften gibt.

Wendelin Hess: Dazu kommt, dass, wenn man eine neutrale Schrift hat, die formschön und vollständig ist, man als Gestalter in diese Schrift eingreifen kann. Wir haben zum Beispiel für „Das Magazin“ des Tagesanzeigers die Bell als Titelschrift verwendet, aber die typische Serife am Großbuchstaben „I“ gestrichen. Für uns war diese Serife eine zu starke visuelle Identifikation — man sah sofort: Das ist die Bell. Nachdem wir diese winzige Serife weggenommen haben, hat kaum mehr jemand diese Schrift erkannt. So haben wir zum Beispiel auch bei der Trade Gothic die Unter- und Oberlängen gekürzt, weil das in unserer Anwendung für einen Kunden die Lesbarkeit verbesserte. Ich finde es effizient, wenn man mit solchen kleinen Notoperationen zu neuen Eigenständigkeiten finden kann.

Wolfgang Weingart: Die Berthold ist noch immer eine gute Schrift, aber auch Berthold hat unschöne Sachen gehabt, und dann habe ich das weggeschnitten, weil’s mir nicht gefiel. Das Prinzip ist das Gleiche. Was mich mehr interessiert als diese oder jene Schrift, ist die Problematik des Lesens: Wie können wir schneller lesen, wie können wir das Alphabet reduzieren auf zum Beispiel 16 anstatt 22 oder 26 Zeichen. Das sind für mich aktuelle Fragen. Wie können wir ein Heft nicht nur mühsam durchackern, sondern ganz schnell erfassen? Eine geniale Einsicht hat sich aus einer Forschung in Cambridge ergeben. Dabei hat sich herausgestellt, dass nur der erste und der letzte Buchstabe eines Wortes stimmen müssen, um das Wort lesen zu können, die anderen Buchstaben können willkürlich verteilt werden. Das ist genial!

Max Bruinsma: Unbewusst geht, glaube ich, vieles im Experimentieren der jungen Generation „fontographers“ über, was da in Cambridge experimentell klar geworden ist: dass wir nicht Buchstaben lesen, sondern Wörter. Mann erkennt Wortbilder, wie zum Beispiel auf dem Umschlag deines Buches...

Wolfgang Weingart: Das Buch sollte eigentlich dreisprachig sein, und das Titelwort „Typografie“ kann man ja in allen Sprachen lesen, nur ist es immer am Schluss anders geschrieben, einmal mit „y”, einmal mit „ie” oder nur mit „i” oder „ph” oder „f”. Deswegen konnte ich am Ende mehr wegschneiden. Solche Dinge kommen immer aus ganz einfachen Begebenheiten heraus. Ich reduziere: Schwarz/weiß oder Schreibmaschine, oder ich schneide weg oder zerschneide, das finde ich bis heute höchst faszinierend.

Max Bruinsma: Kann man sagen, dass das, was traditionell mit Kombinationen von verschiedenen Fonts oder mit Variationen desselben Fonts gemacht wurde, und heute oft als Teil des formalen Ausdrucks im Font eingebaut ist, dass du das quasi außerhalb des Fonts machst; du brauchst 26 Buchstaben und was du mit diesen Buchstaben machst, das ist deine Akzentuierung – keine Eigenschaft des Fonts, sondern von dir hinzugefügt...

Wolfgang Weingart: Genau. Und deshalb möchte ich ein Alphabet benutzen, das archaisch ist, das unkompliziert ist, und – sehr wichtig – das sehr neutral im Ausdruck ist. Dadurch kann ich meine eigene Erfindung viel stärker zum Ausdruck bringen, weil die Elemente, mit denen ich es gemacht habe, unkompliziert sind...

Wendelin Hess: ...und nicht davon ablenken. Eine interessante typografische Erfindung funktioniert gut mit einer neutralen Schrift, aber ob es neutrale Schrift A, B oder C ist, ist mehr oder weniger egal. Oder es geht darum, die Schrift für eine Anwendung zu optimieren. Die Inszenierung einer Veränderung kann so weit gehen, dass wir sagen, jeder Buchstabe hat fünf Punkte unterhalb, egal, ob ein breites „w“ oder schmales „i“. Das gibt dann interessante, die Anwendung strukturierende Muster. Schließlich geht es ja für uns als Anwender von Schriften darum, Eigenständigkeit, Identität zu schaffen. Das geht nicht, wenn man nur die Times benutzt.

Wolfgang Weingart: Worüber wir reden, ist einerseits hochinteressant, andererseits sehr unwichtig. Was wir tun, ist mal einen halben Millimeter hier oder da, das hat so wenig damit zu tun, was um uns herum spielt. Wenn man draußen auf der Straße geht, dann beschäftigen sich die Leute mit ganz anderen Sachen, mit Irak oder weiß Gott was. Wir müssen einfach vorsichtig sein, dass wir die Wichtigkeit unserer Arbeit nicht auf der Spitze treiben. Es sind ja vor allem Haltungsfragen. Das Wichtigste ist, sich für eine Haltung zu bekennen und Freude an der Arbeit zu haben.




max bruinsma